Als die Mode noch wild war…

Große Bühne für einen Titanen: Die Ausstellung „Thierry Mugler – Couturissime“ in Paris. Mademoiselle Lili schwelgt in Erinnerungen.

Ach ja, der Minimalismus. Ach ja, der Tragekomfort. Diese One-for-all-Looks, die vom Büro bis zum Ausgehen taugen. Im Grunde bin ich d’accord, dass die Mode praktischer und lebensnaher geworden ist.


Heute jedoch schaute ich mir die Retrospektive von Thierry Mugler an und komme ins Grübeln. Bin ich eine langweilige Spießerin geworden? Wir alle? Trauen wir uns nicht mehr, vor lauter Wokeness richtig zu leben? Ich begegnete all den Looks, Pop-Videos, Düften und Fotos berühmter Modefotografen wieder, die mich als Kind zum ersten Mal haben von Paris und der Mode träumen lassen: Neben Jean-Paul Gaultier war das vor allem Thierry Mugler. Beide kreierten schillernde, exaltierte Universen, Lichtjahre entfernt von meiner braven, kleinen Lebenswelt in Deutschland. Sie infizierten mich mit einer visuellen, subversiven Kraft, die mich in andere Sphären katapultierte. Mein Kinderzimmer war voll tapeziert mit herausgeschnittenen Seiten aus Modezeitschriften mit Gaultier- und Mugler-Mode.

Thierry Mugler ist einfach „larger than life“. Seine Mode war immer ein Wumms, ein Spektakel, ein Happening, eine Übertreibung. Er gab dem Frauenbild in der Mode eine neue Potenz: Seine Frauen waren breitschultrig, brustpanzergestählt und kriegerisch. Die Femme fatale, die „Glamazone“ ist sein Leitmotiv. Als Kind österreichischer Auswanderer wuchs er im kleinbürgerlichen Elsass der Nachkriegszeit auf, träumte sich mit den Opern Richard Wagners in eine andere Welt. Die wehrhafte, rüstungsartige Silhouette, die zu seinem Markenzeichen wurde, ist stark von den Heldinnen der Wagner-Opern inspiriert. Mit 14 begann er seine Ballettausbildung an der renommierten Straßburger Oper, dann als Kostümbildner, bevor er ab den 70er Jahren die Modeszene von Paris aufmischte: Schon 1979 entwarf er Bühnenkostüme für David Bowie.

Die 90er Jahre wurden sein Jahrzehnt. Mit seinem Duft „Angel“ landete er einen Bestseller, der sogar die Verkaufszahlen von Chanel No. 5 überflügelte. Diesem Parfum ist ein ganzer Raum in der Ausstellung gewidmet. Ich roch ihn überall in den angesagten Techno-Clubs der Welt. Er roch immer wie zu dick aufgetragen. Es war ein Duft, der wie kein anderer zum Zeitgeist passte: Von Berlin bis Paris ging Mann wie Frau mit Engelsflügeln, Paillettenkleidern, silbernen Plateaustiefeln, rosa Perücken und Federboas tanzen, trank zuvor Caipirinha in Bars, deren Wände in rosa Plüsch gehüllt waren und in deren Ecken Lavalampen blubberten und Heiligenschreine funkelten.

Zur Jahrtausendwende wurden wir alle wieder vernünftig. Angepasster. Langweiliger. Mugler verkaufte seine defizitär gewordene Marke, er wohnt heute in Berlin und nennt sich schlicht Manfred. Durch seine Schönheitsoperationen und seinen aufgepumpten Körper drückt der immer noch multikreative Künstler, der als Opernkostümbildner, Modefotograf bis Pop-Video-Regisseur oder Produktdesigner aktiv ist, seinen Unwillen aus, sich dem auf glatte Effizienz getrimmten Zeitgeist und dem neuen Dogma einer vermeintlichen, natürlichen Schönheit zu beugen. In der Übertreibung, der Maskerade und der Ausblendung der Wirklichkeit liegt auch eine Wahrheit – und ein großer, verlorener Spaß.


„Thierry Mugler – Couturissime“, 30. September 2021 bis 24. April 2022 im MAD Paris, www.madparis.fr