Nur in der Rue Montorgueil waren sie noch schneller. Als nach fast drei Monaten die Cafés und Restaurants wieder eröffnen durften, zumindest die, die eine Terrasse draußen haben, warteten die Stammgäste dort nicht einmal bis zum Mittag. Schon in der Nacht zuvor, pünktlich um Mitternacht, versammelten sie sich bei ihrem Lieblingsgastronomen Jean-Luc vom Restaurant „Le Rocher de Cancale“, um das Ende des Lockdowns zu feiern. Davon erfuhr ich erst am nächsten Morgen beim Frühstückscafé am Schreibtisch, aber auch ich hatte mir den Tag rot im Kalender markiert: Um nichts in der Welt wollte ich diesen Tag verpassen und abends auch meinem Stammlokal, dem „Le Progrès“ in der Rue de Bretagne, unbedingt einen Besuch abstatten. Schon bei der Vorbereitung im Bad fühlte ich mich wie ein Teenager auf dem Weg zum Schulabschlussball. Endlich keine Birkenstocks und Jogginghosen mehr, meine Alltagsuniform der letzten Zeit! Das erste Mal nach drei Monaten wieder Make-Up auftragen – und feststellen, dass der Lieblingslippenstift eingetrocknet ist. Das Haar föhnen, das bereits drei Wochen zuvor, beim erstmöglichen Termin bei meiner Frisörin, wieder in Form und Farbe gebracht wurde und ein paar Spritzer Sommerduft hinters Ohr. Vorm Kleiderschrank stehen und die Bügel mit den sommerlichen Kleidern hin- und herschieben. Verschiedene Optionen auf das Bett legen und vorm Spiegel ausprobieren, welcher Look dem besonderen Tag und meiner aufgekratzten Stimmung würdig genug ist. Die Wahl fiel auf ein langes Diane-von-Fürstenberg-Wickelkleid in Leopardenprint und meine Miu-Miu-Ballerinas.
Die Straßen und Trottoirs von Paris – so voll wie eh und je. Das Leben erobert die Straßen zurück. Es fühlt sich an wie ein Kriegsende, bei dem die Überlebenden nur noch tanzen wollen. Noch nie habe ich so viele lächelnde Pariser auf einmal gesehen. Damit die Abstandsregeln gewahrt bleiben, dürfen die Restaurants und Cafés ihre Terrassen sogar bis auf die Straße ausdehnen. Auf den Parkflächen für Anlieferungen poppen, zwischen Mülleimern und parkenden Autos, plötzlich hübsch eingedeckte Tische auf, an denen gut gekleidete Menschen Platz nehmen, sich Salate und Croque Madame servieren lassen. Was in anderen Städten usus ist - schickliche und diskrete Abstände zwischen den einzelnen Tischen, an denen man seinen Hintern nicht an dem des Nachbarn reiben muss – diese neue Normalität kann ich nur begrüßen. Doch keiner trägt Maske. Während ich also auf den engen Trottoirs zwischen Tischen und Menschen Slalom laufe, vermischt sich die erste Freude mit Skepsis: Der Krieg, von dem Emmanuel Macron sprach, ist er wirklich schon gewonnen? Oder ist das nur ein Waffenstillstand?
Beim „Le Progrès“ angekommen, muss ich die weiße Flagge schwenken. Bis auf den letzten Platz ist alles besetzt, Trauben von Menschen warten davor bereits auf freie Tische. Der Schnack mit meinen Lieblingskellnern muss noch warten und damit auch die Beantwortung der Frage, ob die Preise die gleichen geblieben sind oder wir alle jetzt schon angefangen müssen, für Corona zu bezahlen.
© Silke Bender